Die Fenster der Stadt III

„Du solltest mal was wagen!“, hatte Luzie gesagt, „mal rausgehen, was Verrücktes tun. Raus aus der Komfortzone!“

Nun saß Lisa hier, aufgedonnert wie eine Nutte, in einer stinkenden, irgendwie ekelhaften Kneipe in einer Einkaufspassage. Sie kannte sich in der Stadt noch nicht besonders gut aus, obwohl sie schon seit zwei Jahren hier lebte. Vor ihr stand eine dampfende Tasse Glühwein mit Schuss.

Das Zeug schmeckte ekelhaft.

Um sie herum nur alte Säufer. Biergeruch und Zigarettenqualm standen in der Luft. Das Stimmengewirr rührte von den Einkaufenden her, die Gäste dieser Spelunke waren weitgehend stumm.

Zweifelnd schaute sie sich um.

„Grenzen ausloten“, hatte Luzie gesagt, „etwas wagen und etwas Verrücktes tun.“

Lisa kam sich sehr verrückt vor – dennoch würde sie jetzt lieber auf ihrer Couch liegen. Im Bademantel. Mit kuschligen Socken an den Füßen statt der unbequemen Highheels.

„Vielleicht triffst Du ja Deinen Traummann!“

Luzie hatte gelacht, als sie das gesagt hatte. Ihre Mitbewohnerin war ihr einziger Kontakt in der Stadt. Das würde wohl auch so bleiben – hier einen Traummann finden? An einem Werktag, nachmittags – eher einen Alptraum-Mann.

Einen Spielsüchtigen, oder vielleicht einen der Bauarbeiter, die hier offensichtlich ihre Mittagspause verbrachten, in der sie Bier tranken und stinkende Currywurst verspeisten.

Sie erwartete fast, jeden Moment nach ihrem Preis gefragt zu werden.

Doch außer ein paar verstohlenen Blicken konnte sie keine Reaktion auf ihr Auftauchen verbuchen. Vermutlich war das auch besser so.

Lisa legte das Geld für ihr Getränk neben den vollen Becher und ging, den Kopf schamhaft gesenkt.

Was hatte sie sich dabei gedacht?

Sie stand nicht besonders auf fremde Menschen in ihrer Nähe, egal wann, daher arbeitete sie auch von Zuhause. Wenn denn mal ein Auftrag kam. Seit einigen Wochen hatte sie keinen mehr bekommen.

Frustriert spazierte sie durch den Regen. Als sie den Marktplatz überquerte, stellte gerade ein junger Mann Stiefel hinter eine Bank und ging dann einfach weg.

Verwundert schaute sie ihm nach. Er war hübsch, blond, groß, schlank, aber warum sollte jemand einfach so Schuhe aussetzen?

Einer Eingebung folgend schaute sie auf – an einem Fenster stand eine junge Frau und blickte auf den Platz, auf die Stiefel, auf den Mann, bis er hinter einer Ecke verschwand. Sie weinte.

Lisa tat die Frau leid.

Sie ging weiter, zurück nach Hause, und dachte über die traurige Frau nach.

Verrückt sein. Etwas wagen.

Sie kaufte an einem Kiosk Zigaretten, obwohl sie nicht rauchte. Diese normale Transaktion, die wenigen Worte, die der gelangweilte Verkäufer mit ihr wechselte, taten gut.

Draußen öffnete sie das Päckchen und steckte sich eine an. Ein Hustenanfall folgte, der sie nicht davon abhielt, noch zwei weitere Zigaretten zu rauchen, bis sie den Filter erreichte.

Ihr Magen rebellierte, ihr wurde schwindlig, sie fühlte sich vergiftet. Vor ihrem Haus übergab sie sich.

In der Wohnung angekommen zog sie ihr Kleid, die Schuhe und die Seidenstrümpfe aus und legte sich im Bademantel auf die Couch.

Besser.

Etwas wagen, am Arsch!

Selbstmitleid – eine Meditation

Ein Mittwoch.

Um Mitternacht stehe ich am Fenster meiner Wohnung im vierten Stock des imposanten Altbaus in der City und betrachte die Leute.

Gegenüber, zwei Etagen höher, lehnt sich die dicke Frau mit den kurzen Locken über ihr Fensterbrett und raucht.

Ich bin sicher, dass sie mich beobachtet, wenn ich auf dem Wohnzimmerparkett masturbiere.

Ich lasse meine ZIgarette auf den Vorplatz des Hauses fallen und wende mich ab. Die Schimpftirade von unten kann sich auf alles beziehen: Das schwüle Wetter, die stinkenden Kanäle, imaginäre Beledigungen von Vorbeigehenden, meine Zigarette, die den Schimpfenden getroffen hat.

Ich brühe Tee auf.


 

Ein Sonntag.

Manchmal sitze ich auf dem Balkon und trinke Wasser, obwohl ich lieber Gin hätte. Wäre ich alleine, wüsste ich sicher, dass mich heute niemand mehr verurteilen kommt, ich wählte den Gin.

Vermutlich rettet mich meine Beziehung vor der Verwahrlosung.

Selbstmitleid: Ich gebe mich auf, jeden Tag aufs Neue, mit jedem Besäufnis ein bisschen mehr.

Und dann sehe ich fern oder arbeite oder tue so, als wäre alles gut, und das merkwürdige Gefühl in mir, das ich nicht verstehe, schaukelt sich auf und wird größer und mächtiger und schwerer und dann versinke ich.

Könnte ich etwas tun dagegen, dann würde ich.

Würde ich?

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