Die Fenster der Stadt II

In dem türkisen Zimmer habe ich mich noch nie besonders wohl gefühlt.

Ich bevorzuge das rote Zimmer.

Tatsächlich habe ich Türkis als Wandfarbe nur deshalb gewählt, weil er es hasst. Ich wollte ihn damit nicht ärgern oder gegen mich aufbringen, ich wollte schlicht ein Zimmer in dieser viel zu großen Wohnung, das allein mich widerspiegelt, das nur nach meinem Willen gestaltet ist, das mir gehört.

Nicht ihm, nicht uns, nur mir.

Nennt es Trotz. Ich nenne es … keine Ahnung. Ich kann es nicht benennen, ich weiß nur, dass es mir ein Bedürfnis war.

Das türkise Zimmer ist das einzige mit Blick auf den Platz, und das ist auch der Grund, warum ich mich nun hier aufhalte: Ich stehe am Fenster und beobachte ihn.

Keine Ahnung, warum er da unten ist, jeden Tag, an dem ich hier stehe und hinaussehe. Er weiß doch gar nicht, dass ich immer am liebsten hier stand und auf den Platz schaute, die Leute beobachtete, den Auf- und Abbau des Marktes, die kleinen Lieferwagen, für die ganzen kleinen Läden in unserem Viertel, die Menschen, die hin und her laufen, manche mit Ziel, viele ohne.

Er ist jetzt einer von ihnen, und ich glaube, er tut es mit Absicht.

Hasst mich, verflucht mich, verleugnet meine Existenz, aber weigert sich gleichsam, mein Leben zu verlassen.

Seine Anwesenheit auf diesem Platz, meinem Platz, bedrängt mich, erinnert mich beständig an die Gefahr, in der ich Schwebe:

es gibt einen Menschen, der mich hasst.

Manchmal sind meine Freunde bei ihm, vormals unsere Freuende, die nun „meine“ und „seine“ zu sein scheinen. Nicht, dass sie sich von mir abgewandt hätten, es gibt nur jetzt kein „unser“ mehr, das „Wir“ ist vergangen, dafür habe ich gesorgt.

Keine Reue, nein, das nicht. Aber der Wunsch nach Ruhe, nach emotionalem Frieden.

Er blüht auf ohne mich und das sollte mich freuen. Doch es ist mir egal.

Er soll nur nicht mehr auf dem Platz herumlungern.

Er stellt Stiefel hinter eine Bank.

Morgen werde ich daran vorbei gehen, wenn ich selber in die Menge auf dem Platz eintauche, mit Ziel, schnellen Schrittes, und ich werde feststellen, dass ich diese Stiefel nie zuvor gesehen habe, es sind ganz und gar fremde Schuhe.

Braune, spitze Schnallenstiefel, gar nicht sein Stil.

Nach sechs Monaten schon so fremd, und dennoch lässt er mich einfach nicht in Ruhe, schleicht wie ein Poltergeist durch meine Welt, in der ich ihn nicht mehr haben will, und bedroht mich mit seiner Umtriebigkeit, seiner Kreativität.

Was, wenn sie ihn irgendwann mehr mögen als mich?

Was, wenn seine geselligen Beschäftigungen meine einsamen schlagen und sie alle auf seine Seite ziehen?

Was, wenn sich mein Wunsch nach Ruhe schließlich doch noch erfüllt und ich alleine zurück bleibe, im türkisen Zimmer mit dem Fenster auf den Platz, durch das ich die Menschen sehe, die alle ihre eigenen Geschichten haben, die nicht meine Geschichte sind, die ich nicht berühre?

Die Fenster der Stadt VI

Hinter den Fenstern ohne Vorhänge herrscht Einsamkeit.

Man sieht es sofort, sie sind nicht geputzt, werden langsam blind, ein leerer Blumenkasten verbreitet Trübsinn.

Diese Gegend war mal eine gute, war mal teuer. Jetzt wohnt hier niemand mehr, der Geld hat, sie sind alle weg und haben mitgenommen, was an dieser Gegend mal schön gewesen ist. Vorgärten verdorren. Wäscheleinen hängen durch. Manche Fenster sind zerschlagen und mit Sperrholzplatten und Plastikplanen notdürftig geflickt worden. Andere bleiben einfach offen.

Die Fenster ohne Vorhänge sind noch intakt. Die Wohnung, zu der sie gehören, ebenfalls. Sie ist genauso leer und ungepflegt wie ihr Bewohner, sie atmet dieselbe Einsamkeit. Auf einem zerschlissenen Sofa sitzt der zerschlissene Mann und sieht sich Werbung an, im winzigen Fernseher, auf dem er kaum etwas erkennen kann. Die quäkenden Stimmen aus dem Gerät trösten ihn auf eine Art, wie es echter menschlicher Kontakt schon lange nicht mehr schafft. Der Mann sieht sich nur noch Werbung an, denn die Spielfilme und Abendshows versteht er nicht. Er bevorzugt einfache, klare Klischees, übertriebene Fröhlichkeit und die Illusion, dass es irgendwo auf der Welt noch so etwas wie Glück gibt.

Es regnet. Der Mann bemerkt das nicht, er schaut schon lange nicht mehr aus dem Fenster.

Ich kann ihn sehen. Ich sehe ihn jeden Tag. Nicht mehr lange, dann hat der Dreck der Stadt die Fenster so sehr verkrustet, dass ich ihn nicht mehr werde sehen können. Dann werde ich vermutlich näher herangehen und ein wenig an der Scheibe reiben müssen, um zu sehen, wie er da sitzt. Aber vielleicht bringt das doch nichts, weil der Dreck der Stadt nicht abzuwischen ist und von innen Nikotin und Staub und Alter den Blick trüben.

Man hört den Fernseher Tag und Nacht, die laute Werbung, die bunte Welt, die es in Wahrheit nicht gibt.

Der Mann zündet sich eine Zigarette an und kuschelt sein Gesicht kurz in ein Stofftier, das er auf dem Schoß hält. Eine kleine Katze, grau, fast ohne Fell.

Man kann diesem Mann nicht mehr helfen, aber seine Hilflosigkeit hilft nun mir, lässt mich mein Leben in einem schöneren Licht betrachten, denn ich kann mir Spielfilme ansehen und einkaufen gehen und im Park spazieren und meine Fenster putzen.

Manchmal kann ich auch reden, mit Menschen, die mir begegnen, und manchmal habe ich dabei sogar Spaß. Ich weiß nicht, was passiert, wenn er mal nicht mehr in seiner leeren Wohnung sitzt und meine Einsamkeit für mich trägt.

Happier Times

Glückliche Erinnerungen sind Arschlöcher.

Wie Quallen schweben sie durch Dein Leben, wunderschön und faszinierend, ziehen vorbei, lassen Dich verwirrt im Wasser zurück und verbrennen Dich mit ihren Nesseln.

Besonders schmerzhaft sind die Großen, die mit den extra-langen Armen, die Dich besonders lange und gründlich verbrennen, bis Du vor Schmerzen nur noch weinen kannst. Die siehst du nicht mal.

Auf Quallenstiche soll man pinkeln, das hilft gegen den Schmerz.

Auf den Schmerz glücklicher Erinnerungen pinkelt man am besten auch.