Fragmente 4

»Erzähl mir etwas von dir, das merkwürdig ist. Eine bizarre Information. Aber sie muss wahr sein.«
Er lacht leise. »Bizarr? Wow, okay, lass mich überlegen …«
Schweigen. Ich lasse ihn nachdenken und sehe mich derweil im Zimmer um. Es ist mein altes Zimmer, hier bin ich aufgewachsen, aber es sieht nicht mehr so aus wie damals. Meine Eltern haben seit meinem Auszug renoviert, vielleicht sogar mehrmals, und dieses Zimmer – mein »Kämmerlein«, wie meine Mutter es immer genannt hat – ist jetzt ein GästezimmerSchrägstrichHauswirtschaftsraum: Ein schmales Bett und ein kleiner Kleiderschrank, die alt aussehen, bei denen es sich aber eindeutig nicht um meine alten Möbel handelt,
(vielleicht hat irgendein Nachbar ausgemistet und meinen Eltern die Sachen angeboten, die immerhin neuer und besser gepflegt sind als meine alten Sachen; der Schrank ist nicht voller Aufkleber aller Art und am Kopfende des Bettes sind keine Kerben eingeritzt, die anzeigen, wie lange ich noch ausharren muss, bis ich endlich meinen Schulabschluss habe und dieses elende Kaff verlassen kann)
ein Bügelbrett in der Ecke, daneben der zusammengeklappte Kleiderständer zum Trocknen der Sachen, der Staubsauger. Das einzig Vertraute ist mein alter Flickenteppich, der neben dem Bett liegt.
Ich streife meine Schuhe ab und vergrabe die Füße im warmen Stoff.
»Eigentlich«, setzt Enrico an, »musste ich jetzt nicht lange nachdenken. Mir sind nicht besonders viele Dinge im Leben zugestoßen, die man als ›bizarr‹ bezeichnen könnte.« Er lacht. Fröhlicher Enrico. Oh, du glücklicher Junge! Ich bin ein bisschen neidisch. Mir ist nach mehr Wein, oder vielleicht Schnaps. Nach Schlaf, nicht nach Lachen. Er scheint das zu spüren und will mich aufheitern.
Enrico, bist du etwa einer von den Guten?

Fragmente 3

Ein neuer Roman ist im Entstehen begriffen – schon seit nunmehr drei oder vier Jahren. Aber weil ja immer irgendwas ist, dauert es wohl noch, bis ich ihn auf die Welt loslassen kann. Ich gelobe mehr Fleiß & hoffe auf Fertigstellung 2020.
Weil es wieder ein Fragment-Roman wird, hier ein paar der (ungeordneten) Fragmente.

Diese beschissene Rumhängerei geht mir auf die Nerven. Ich werfe die staubige alte Wolldecke von meinen Beinen, ziehe meinen Bademantel über und gehe auf den Balkon, rauchen.
Der Balkon ist der einzige Lichtblick in dieser winzigen, versifften Bude. Er ist eher eine Art Dachterrasse, riesengroß, mit Meerblick – wenn man sich an eine bestimmte Ecke stellt und sich ein wenig vorlehnt und nach links schaut. Dann erkennt man einen schmalen Streifen Sand und dahinter das Blau des Wassers, das manchmal eher ein Grau ist und manchmal weiß. An stürmischen Tagen sieht man die Wellen, kleine weiße Schaumkronen auf Linien, die zum Strand rollen und aus dem Blickfeld verschwinden, ehe sie eine brechen. Es riecht nach Salz.
Ich laufe auf und ab, drehe meine Runden wie in einem Käfig. Der Käfig, das ist doch am ehesten meine Faulheit, mein Mich-Verstecken vor der Welt und den Leuten, die in dieser Stadt ebenfalls ihre Runden drehen, größere Runden, vorgeblich sinnvoll: Morgens zur Arbeit, mittags zum Essen, abends nach Hause, dann in die Bar oder ins Kino oder ins Theater. Dann ins Bett und alles wieder von vorne.
Auf einem der Stühle liegt Renzo, alle sechs Beinchen von sich gestreckt. Er hat einen langen Strohhalm im Mund und trägt ein Partyhütchen auf dem Kopf. Er grinst mich an und wackelt mit einem Bein, um mich zu begrüßen.
»Verpiss dich!«, rufe ich und werfe meine halb gerauchte Kippe in seine Richtung. Die Glut brennt ein weiteres Loch in den schäbigen Bezug. Kein Renzo mehr. Gut so.
Ich hebe die Kippe auf und schmeiße sie in den großen Aschenbecher auf dem Tisch, den wir neben die Tür gestellt haben.
Bloß keinen Ärger mit den anderen Bewohnern dieses Dreckshaufens von Wohnung kriegen.
Die letzten Sonnenstrahlen ziehen sich langsam von den alten Steinplatten zurück, kriechen über die Balustrade, werden bald verschwinden und Nacht zurücklassen. Es war ein heißer Tag, hell und wunderschön. Jetzt erhebt sich eine leichte Brise vom Wasser und bringt den Duft von Salz und dem Rhododendron, der üppig die Küstenstraße säumt.
Paradies.
Eigentlich.
Im Grunde waren die letzten drei Jahre gut.

Fragmente 2

Ein neuer Roman ist im Entstehen begriffen – schon seit nunmehr drei oder vier Jahren. Aber weil ja immer irgendwas ist, dauert es wohl noch, bis ich ihn auf die Welt loslassen kann. Ich gelobe mehr Fleiß & hoffe auf Fertigstellung 2020.
Weil es wieder ein Fragment-Roman wird, hier ein paar der (ungeordneten) Fragmente.

»Die Köder waren winzige transparente, leicht silbrige Fischchen. Als ich den Fischer fragte, ob er die alle gefischt habe, erwiderte er nein, die einen, die großen, seien die Eltern, und die kleinen die Jungen. Und die großen habe er tatsächlich gefischt, die kleinen in einer Fischhandlung in Frascati gekauft. Die seien nicht zum Essen, die dienten nur als Köder.« (Roberto Bolaño, Lumpenroman)

Die Trauer, so scheint es manchmal, ist unendlich, ewig. Sie will mich nicht verlassen und vielleicht – in einer der zahlreichen Ecken meines Seins – will ich sie auch nicht loslassen.
Die Trauer ist jetzt schon so lange bei mir, dass es mir vorkommt, als sei sie ein Teil von mir. Sie ist so lange bei mir, dass ich nicht einmal sagen kann, ob sie ein großer Teil von mir ist oder nur ein unbedeutender, winziger Fleck auf meinem Bewusstsein, ein Fleck, der sich manchmal in mein Gesichtsfeld schiebt und wie ein Staubkorn auf einer Fotolinse alles verdeckt, was ich eigentlich sehen will, und plötzlich so riesig wirkt, als gehörte ihm das Universum.
Es ist meine Trauer, manchmal zumindest, und manchmal bin ich ein Mensch, der der Trauer gehört, und dann – so rätselhaft mir ihr Ursprung und ihr Weg auch scheinen mögen – dann ist ganz klar, dass ich keine Chance habe, dem zu entkommen, dann weiß ich, dass es immer so weitergehen wird, und dann wird es dunkel um mich – nicht gleißend hell, bis keine Ruhe mehr möglich ist – nein, es wird dunkel, eine Finsternis, die unbeschreiblich, unerträglich und – seltsam genug – frei von Angst ist. Denn auch das gehört zu der Trauer: Die Angst hat in ihr keinen Platz.
Die Trauer ist schon lange bei mir. Nicht, seit ich denken kann, aber sie kam kurz danach. Sie ist schon so lange bei mir, dass ich nicht mehr weiß, ob sie immer da ist oder nur ab und zu, dass ich nicht mehr weiß, ob sie ständige Begleiterin oder sporadische Besucherin ist.
Was ich weiß, ist, dass ich nicht immer Platz für sie machen will.
Mein Leben ist nicht ständig dunkel. Da ist auch Wut. Da ist auch Freude. Da ist etwas, das man vielleicht am ehesten zum Galgenhumor zählen kann.
Und die Weigerung, zu akzeptieren, dass meine Trauer, die elende, elende Trauer, mich zum Köderfisch degradiert.